* 41 *

41. Die Vergeltung
Drachenring

Auf der Muriel zwei wurde hitzig diskutiert.

»Ich habe keinen blassen Schimmer. Vielleicht ist Marcia ja überhaupt nicht auf der Vergeltung.«

»Ich gehe jede Wette ein, dass sie an Bord ist.«

»Wir müssen sie finden. Ich könnte sie ganz bestimmt retten.«

»Na hör mal, nur weil du in der Armee warst, kannst du noch lange nicht ein Schiff stürmen und Menschen retten.«

»Aber versuchen kann ich es.«

»Er hat Recht, Nicko.«

»Das schaffen wir nie. Sie sehen uns kommen. Jedes Schiff hat rund um die Uhr eine Wache an Deck.«

»Aber wir könnten es mit dem Zauber versuchen, du weißt doch, mit dem ... wie hieß er noch?«

»Unsichtbarkeitszauber. Kinderleicht. Dann können wir zum Schiff paddeln, die Strickleiter raufklettern und ...«

»Halt, aufhören! Das ist gefährlich.«

»Marcia hat mich gerettet, als ich in Gefahr war.«

»Und mich auch.«

»Na schön. Ihr habt gewonnen.«

Als die Muriel zwei um die letzte Biegung des Deppen Ditch fuhr, fasste Junge 412 in die Innentasche seines roten Filzhuts und zog den Drachenring hervor.

»Was ist das für ein Ring?«, fragte Nicko.

»Äh, ein Zauberring. Hab ich gefunden. Unter der Erde.«

»Sieht aus wie ein Amulett«, sagte Nicko.

»Ja«, stimmte Junge 412 zu, »hab ich mir auch schon gedacht.« Er steckte ihn an seinen Finger. Sofort wurde der Ring warm. »Soll ich gleich mit dem Zauber anfangen?«, fragte er.

Jenna und Nicko nickten, und Junge 412 leierte herunter:

»Lass in der Luft mich nun verschwinden,
Lass keinen, der mir Böses will, mich finden,
Lass den vorbeigehn, der mich hasst,
Mach, dass sein Aug mich nicht erfasst.«

Junge 412 verschwand langsam im Nieselregen, nur sein Paddel schwebte noch in der Luft. Jenna nahm einen tiefen Atemzug und sprach ihrerseits die Zauberformel.

»Du bist immer noch da, Jen«, sagte Nicko. »Probier’s noch mal.«

Beim dritten Versuch klappte es. Jennas Paddel schwebte neben dem von Junge 412.

»Jetzt du, Nicko«, sagte Jennas Stimme.

»Wartet einen Moment«, sagte Nicko. »Den habe ich noch nie ausprobiert.«

»Dann nimm eben deinen eigenen«, schlug Jenna vor. »Ist doch egal, Hauptsache, er funktioniert.«

»Na ja, äh, ich weiß nicht, ob er funktioniert. Und er geht ganz anders als ›Lass in der Luft mich nun verschwinden‹.«

»Nicko!«, protestierte Jenna.

»Schon gut, schon gut. Ich versuch’s.«

»›Ungesehen, ungehört‹ ... äh ... ich weiß nicht mehr, wie es weitergeht.«

»Versuch’s mal mit: ›Ungesehen, ungehört, nicht ein Flüstern, nicht ein Wort‹«, schlug Junge 412 wie aus dem Nichts vor.

»Genau, so geht es. Danke.«

Der Zauber funktionierte. Nicko löste sich langsam in Luft auf.

»Bist du in Ordnung, Nicko?«, fragte Jenna. »Ich kann dich nicht sehen.«

Es kam keine Antwort.

»Nicko?«

Nickos Paddel wackelte wild hin und her.

»Wir können ihn nicht sehen, und er kann uns nichts sehen, weil er einen anderen Zauber verwendet hat«, sagte Junge 412 leicht missbilligend. »Und wir können ihn bestimmt auch nicht hören, denn es ist hauptsächlich ein Stillezauber. Außerdem schützt er ihn nicht.«

»Nicht gerade berauschend«, sagte Jenna.

»Nein«, stimmte Junge 412 ihr zu. »Aber ich habe eine Idee. Ich versuche es mit einem Erkennungszauber. Das müsste hinhauen: ›Zwischen den Zaubern in unserer Runde, gewähre uns eine gemeinsame Stunde.‹«

»Da ist er!«, rief Jenna, als Nickos Gestalt leicht verschwommen erschien. »Kannst du uns sehen, Nicko?«, fragte sie.

Nicko grinste und reckte den Daumen nach oben.

»Wow, du bist richtig gut«, sagte Jenna zu Junge 412.

Nebel kam auf, und Nicko nutzte seinen Stillezauber, um aus dem Kanal auf den Fluss hinauszupaddeln. Es war windstill, und das Wasser kräuselte sich leicht im Nieselregen. Nicko paddelte so ruhig wie möglich, nur für den Fall, dass zwei scharfe Augen im Ausguck des Schiffs die seltsamen Wirbel an der Wasseroberfläche bemerkten, die sich langsam dem Schiff näherten.

Nicko kam zügig voran, und bald tauchte die steile schwarze Bordwand der Vergeltung vor ihnen aus dem dunstigen Regen auf. Unbemerkt erreichte die Muriel zwei die Strickleiter. Sie beschlossen, dass Nicko im Kanu bleiben sollte. Unterdessen sollten Jenna und Junge 412 versuchen herauszufinden, ob Marcia an Bord war, und sie, wenn möglich, befreien. Nicko sollte sich bereithalten, falls sie Hilfe brauchten. Aber Jenna hoffte, dass das nicht nötig sein würde, denn sein Zauber schützte ihn nicht, wenn er in Schwierigkeiten geriet. Nicko hielt das Kanu fest, während zuerst Jenna und dann Junge 412 auf die wackelige Strickleiter kletterten und den langen, gefährlichen Aufstieg in Angriff nahmen.

Nicko sah ihnen nach. Er hatte ein ungutes Gefühl. Es kam nämlich vor, dass Unsichtbare Schatten warfen und eigenartige Luftwirbel erzeugten. In dem Fall würde sie ein Schwarzkünstler wie DomDaniel mit Leichtigkeit entdecken. Aber Nicko konnte nichts weiter tun, als ihnen im Stillen Glück zu wünschen. Er beschloss, ihnen nachzuklettern, wenn das Wasser im Deppen Ditch den mittleren Stand erreicht hatte und sie bis dahin noch nicht zurück waren, ob ihn sein Zauber nun schützte oder nicht.

Um sich die Zeit zu vertreiben, stieg er in das Kanu des Jägers um. Er sagte sich, dass er genauso gut in einem anständigen Boot warten konnte. Auch wenn es ein wenig mit Schleim verschmiert war. Und stank. Aber auf den Fischerbooten, auf denen er früher ausgeholfen hatte, hatte es manchmal noch schlimmer gestunken.

Der Aufstieg an der Strickleiter war nicht leicht. Andauernd schlug die Leiter gegen die klebrige schwarze Bordwand, und Jenna hatte Angst, man könnte sie hören, doch oben blieb alles ruhig. So ruhig, dass sie sich fragte, ob es eine Art Geisterschiff war.

Oben angekommen, blickte Junge 412 in die Tiefe, und das hätte er besser nicht getan. Alles begann sich zu drehen, ihm wurde speiübel. Er bekam schweißnasse Hände und wäre beinahe von der Strickleiter abgerutscht. Das Wasser war Schwindel erregend weit unter ihm. Das Kanu des Jägers sah winzig aus, und eine Sekunde lang glaubte er, jemand darin sitzen zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Nicht nach unten sehen, sagte er sich streng. Nicht nach unten sehen!

Jenna hatte keine Höhenangst. Sie kletterte mühelos hinauf und zog Junge 412 von der Leiter an Deck. Junge 412 heftete seine Augen fest auf Jennas Stiefel, als er an Deck kroch.

Sie sahen sich um.

Auf der Vergeltung war es unheimlich. Die dicke Wolke, die über ihr hing, tauchte sie in einen tiefen Schatten, und bis auf das leise gleichmäßige Knarren, mit dem sie sich in der auflaufenden Flut wiegte, war es still. Jenna und Junge 412 schlichen übers Deck, vorbei an sauber aufgeschossenen Tauen, ordentlichen Reihen geteerter Fässer und mehreren Kanonen, die drohend in Richtung Marram-Marschen wiesen. Bis auf das bedrückende Schwarz und ein paar gelbe Schleimspuren an Deck deutete nichts auf den Besitzer des Schiffes hin. Sie gingen in Richtung Bug, und plötzlich spürte Junge 412 so deutlich die Gegenwart dunkler Kräfte, dass es ihn fast umwarf. Jenna spürte nichts und ging weiter, und er folgte ihr, da er sie nicht allein lassen wollte.

Die dunklen Kräfte kamen von einem imposanten Thron, der neben dem Fockmast stand und in Richtung Meer blickte. Es war ein großes und schweres Möbelstück, das an Deck eines Schiffes merkwürdig fehl am Platz wirkte, kunstvoll aus Ebenholz gezimmert und mit dunkelrotem Blattgold verziert – und darauf saß DomDaniel, der Schwarzkünstler höchstpersönlich. Er hatte die Augen geschlossen und den Mund halb geöffnet, und aus seiner Kehle drang bei jedem Atemzug ein leises Gurgeln. DomDaniel hielt seinen Nachmittagsschlaf. Unter dem Thron lag, wie ein treuer Hund, eine schlafende Kreatur in einer Lache aus gelbem Schleim.

Junge 412 packte Jenna so fest am Arm, dass sie fast aufschrie. Er deutete auf DomDaniels Taille. Jenna sah hin und blickte dann wieder verzweifelt zu Junge 412. Es stimmte also. Sie hatte Alther nicht glauben wollen, aber jetzt sah sie es mit eigenen Augen. Um DomDaniels Taille lag, durch seinen dunklen Umhang fast verdeckt, der Gürtel der Außergewöhnlichen Zauberin. Marcias Gürtel.

Jenna und Junge 412 betrachteten DomDaniel mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Die Hände des Schwarzkünstlers lagen auf den Ebenholzlehnen des Thrones. Seine gelben Fingernägel krümmten sich um die Enden und krallten sich wie Klauen ins Holz. Sein Gesicht hatte noch die verräterische gräuliche Blässe aus jenen Jahren, die er in der Unterwelt zugebracht hatte. Es war in vieler Hinsicht ein gewöhnliches Gesicht. Nur die Augen lagen vielleicht etwas zu tief, und der Zug um den Mund war etwas zu streng. Doch es waren die darunter liegenden dunklen Kräfte, die Jenna und Junge 412 erschaudern ließen.

Auf seinem Kopf saß ein schwarzer Zylinder. Er sah aus wie ein kurzes Ofenrohr und war ihm aus unerfindlichen Gründen immer eine Idee zu groß, wie oft er sich auch einen neuen anfertigen ließ. Das störte DomDaniel mehr, als er zugeben wollte, und er war zu der Überzeugung gelangt, dass sein Kopf seit seiner Rückkehr in den Zaubererturm schrumpfte. Im Schlaf war der Hut heruntergerutscht, sodass er jetzt auf seinen weißlichen Ohren ruhte. Der schwarze Zylinder war ein altmodischer Zaubererhut. Kein Zauberer hatte ihn mehr getragen oder tragen wollen, seit er mit der großen Zauberer-Inquisition vor vielen hundert Jahren in Verbindung gebracht wurde.

Über dem Thron war ein dunkelroter Baldachin gespannt, auf dem drei Sterne prangten. Jetzt im Regen hing er stark nach unten durch, und in regelmäßigen Abständen fiel ein Tropfen herab und landete spritzend in der Pfütze, die sich in der Einbuchtung oben auf dem Zylinder gebildet hatte.

Junge 412 hielt Jenna an der Hand fest. Er erinnerte sich an ein mottenzerfressenes Büchlein von Marcia mit dem Titel Die hypnotische Anziehungskraft der dunklen Kräfte, das er an einem verschneiten Nachmittag gelesen hatte, und er spürte, wie Jenna in den Bann dieser Kräfte geriet. Er zog sie von dem Schläfer fort, hin zu einer offenen Luke.

»Marcia ist hier«, raunte er ihr zu. »Ich spüre ihre Gegenwart.«

An der Luke angekommen, vernahmen sie Schritte. Jemand lief über das Unterdeck und kam dann rasch die Leiter heraufgeklettert. Sie versteckten sich hinter einem Fass. Im nächsten Moment erschien ein Seemann mit einer langen unangezündeten Fackel in der Hand. Der Mann war klein und drahtig und schwarz gekleidet wie die Gardewächter, doch im Unterschied zu den Wächtern hatte er keinen kahl geschorenen Schädel, sondern einen langen dunklen Zopf, der auf seinem Rücken baumelte. Zu einer ausgebeulten Hose, die knapp über die Knie reichte, trug er eine Jacke mit breiten schwarz-weißen Streifen. Der Matrose zückte eine Zunderbüchse, schlug einen Funken und entzündete die Fackel. Sie fing sofort Feuer, und eine orangefarbene Flamme erhellte das Grau des verregneten Nachmittags und warf tanzende Schatten übers Deck. Er trug die Fackel vor zum Bug und steckte sie in einen Fackelhalter. DomDaniel öffnete die Augen. Sein Nickerchen war vorüber.

Der Matrose verharrte nervös neben dem Thron und wartete auf Befehle des Schwarzkünstlers.

»Sind sie zurück?«, fragte eine tiefe, dumpfe Stimme, bei deren Klang sich Junge 412 die Nackenhaare sträubten.

Der Matrose mied den Blick des Schwarzkünstlers und verbeugte sich. »Der Junge ist zurückgekehrt, Exzellenz. Mit Ihrem Diener.«

»Ist das alles?«

»Jawohl, Exzellenz. Aber ...«

»Was aber?«

»Der Junge sagt, er hätte die Prinzessin gefangen, Exzellenz.«

»Das Königsbalg! Sehr schön. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Bring sie zu mir. Auf der Stelle!«

»Zu Befehl, Exzellenz.« Der Matrose machte eine tiefe Verbeugung.

»Und hol die Gefangene herauf. Es wird sie interessieren, ihren ehemaligen Schützling zu sehen.«

»Ihren was, Exzellenz?«

»Das Königsbalg, du Wicht. Hol sie alle rauf. Sofort!«

Der Seemann verschwand in der Luke, und wenig später spürten Jenna und Junge 412, dass sich unter Deck etwas regte. Im Bauch des Schiffes brach Geschäftigkeit aus. Seeleute purzelten aus Hängematten, legten Schnitzarbeiten, Knoten oder noch unfertige Schiffe in Flaschen weg und liefen, wie von DomDaniel befohlen, durchs Unterdeck.

DomDaniel erhob sich von seinem Thron, noch etwas steif von der Kälte, und blinzelte, als sich ein Rinnsal Regenwasser vom Deckel des Zylinders in sein Auge ergoss. Zornig weckte er den schlafenden Magog mit einem Fußtritt. Die Kreatur quoll unter dem Thron hervor und kroch zu DomDaniel, der mit verschränkten Armen und erwartungsvoller Miene wartete.

Bald ertönten von unten schwere Tritte, und gleich darauf erschienen ein Dutzend Matrosen und nahmen als Leibwache rings um DomDaniel Aufstellung. Dann folgte die zaudernde Gestalt des Lehrlings. Er war blass, und Jenna sah, dass seine Hände zitterten. DomDaniel würdigte ihn keines Blickes. Seine Augen waren noch auf die offene Luke gerichtet und warteten darauf, dass die gefangene Prinzessin auftauchte.

Doch es kam niemand.

Die Zeit schien stehen zu bleiben. Die Matrosen, die nicht wussten, worauf sie eigentlich warteten, traten unruhig von einem Fuß auf den anderen, und der Lehrling bekam ein nervöses Zucken unter dem linken Auge. Von Zeit zu Zeit schielte er zu seinem Meister, sah aber gleich wieder weg, als fürchte er, DomDaniel könnte seinen Blick auffangen. Nach einer halben Ewigkeit fragte DomDaniel: »Nun, wo bleibt sie, Bursche?«

»W... wer, Exzellenz?«, stotterte der Lehrling, obwohl er genau wusste, wer gemeint war.

»Das Königsbalg, du Spatzenhirn. Wen sollte ich denn sonst meinen? Deine schwachsinnige Mutter?«

»N... nein, Exzellenz.«

Wieder waren unten Schritte zu hören.

»Ah«, murmelte DomDaniel. »Endlich.«

Doch es war Marcia. Ein Magog, der sie mit seiner langen gelben Klaue festhielt, schob sie durch die Luke. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, doch die Kreatur klebte wie Leim an ihr. Ihre Kleidung war mit gelben Schleimstreifen überzogen. Sie schaute angeekelt an sich hinunter und behielt denselben Gesichtsausdruck, als sie sich DomDaniel zuwandte, der sie triumphierend ansah. Obwohl Marcia einen Monat lang in einem dunklen Kerker geschmachtet hatte und ihrer Zauberkräfte beraubt war, gab sie noch eine gute Figur ab. Ihr dunkles Haar, wirr und ungekämmt, verlieh ihr ein zorniges Aussehen. Ihr salzfleckiger Umhang war von einer schlichten Würde, und ihre Pythonschuhe waren wie immer makellos sauber. Jenna spürte, dass DomDaniel verunsichert war.

»Ah, Miss Overstrand«, murmelte er, »wie schön, dass Sie uns beehren.«

Sie antwortete nicht.

»Miss Overstrand, ich habe Sie aus folgendem Grund hier behalten. Ich wollte, dass Sie dieses kleine ... Finale miterleben. Wir haben eine interessante Neuigkeit für Sie, nicht wahr, Septimus?«

Der Lehrling nickte unsicher.

»Mein getreuer Lehrling hat Freunde von Ihnen besucht, Miss Overstrand. In dem hübschen kleinen Haus da drüben.« DomDaniel wedelte mit seinen beringten Fingern in Richtung Marram-Marschen.

Etwas in Marcias Gesicht veränderte sich.

»Ah, wie ich sehe, wissen Sie, von wem ich spreche, Miss Overstrand. Das habe ich mir fast gedacht. Nun, mein Lehrling hier hat von einer erfolgreichen Mission berichtet.«

Der Lehrling wollte etwas sagen, wurde von seinem Meister aber mit einer Geste daran gehindert.

»Auch ich kenne noch nicht alle Einzelheiten. Ich habe mir gedacht, Sie möchten bestimmt als Erste die gute Nachricht hören. Deshalb wird uns Septimus jetzt ausführlich berichten, nicht wahr, Junge?«

Der Lehrling richtete sich zögernd auf. Er wirkte sehr nervös. Mit dünner Stimme stammelte er: »Ich ... äh ...«

»Sprich lauter, Junge«, sagte DomDaniel. »Es hat keinen Sinn, wenn wir kein Wort von dem verstehen, was du sagst. Also?«

»Ich ... äh ... ich habe die Prinzessin gefunden. Das Königsbalg.«

Unter den Zuhörern entstand eine gewisse Unruhe. Jenna hatte den Eindruck, dass die Matrosen von der Neuigkeit nicht gerade angetan waren, und musste an Tante Zelda denken, die zu ihr gesagt hatte, dass DomDaniel die Seeleute niemals für sich gewinnen würde.

»Weiter, Junge«, drängte DomDaniel ungeduldig.

»Ich ... äh ... der Jäger und ich haben die Hütte gestürmt und alle gefangen genommen ... äh ... die Weiße Hexe Zelda Zanuba Heap, den Zauberer jungen Nickolas Benjamin Heap und den desertierten Entbehrlichen von der Jungarmee, Junge 412. Und ich habe die Prinzessin gefangen genommen – das Königsbalg.«

Der Lehrling machte eine Pause. Panische Angst sprach aus seinen Augen. Was sollte er sagen? Wie sollte er erklären, dass die Prinzessin gar nicht an Bord und der Jäger verschwunden war?

»Du selbst hast das Königsbalg gefangen genommen?«, erkundigte sich DomDaniel argwöhnisch.

»Jawohl, Exzellenz. Ich. Aber ...«

»Was aber?«

»Aber, nun ja, Exzellenz, die Weiße Hexe hat den Jäger überwältigt, und als er fortgegangen ist, um Clown zu werden ...«

»Clown? Willst du Schabernack mit mir treiben, Junge? Das will ich dir nicht geraten haben!«

»Nein, Exzellenz. Ich will keinen Schabernack mit Ihnen treiben, Exzellenz.« Dem Lehrling war in seinem ganzen Leben nie weniger nach Schabernack zu Mute gewesen. »Als der Jäger fort war, ist es mir gelungen, das Königsbalg eigenhändig gefangen zu nehmen, Exzellenz, und um ein Haar wäre ich auch entkommen, aber ...«

»Um ein Haar? Um ein Haar entkommen?«

»Ja, Exzellenz. Es war sehr knapp. Der verrückte Zaubererjunge Nickolas Heap hat mich mit einem Messer angegriffen. Er ist sehr gefährlich, Exzellenz. Und das Königsbalg ist entwischt.«

»Entwischt?!«, brüllte DomDaniel und baute sich vor dem zitternden Lehrling auf. »Und da kommst du zurück und nennst deine Mission einen Erfolg? Schöner Erfolg. Zuerst sagst du, dieser vermaledeite Jäger sei Clown geworden, dann sagst du, eine lächerliche Weiße Hexe und ein paar Rotznasen, die von zu Hause fortgelaufen sind, hätten dir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und jetzt erzählst du mir, dass das Königsbalg entkommen ist. Der ganze Zweck dieser Mission, ihr alleiniger Zweck bestand darin, dieses emporgekommene Königsbalg gefangen zu nehmen. Was genau meinst du eigentlich mit Erfolg?«

»Na ja, wir wissen jetzt, wo sie ist«, antwortete der Lehrling kleinlaut.

»Das wussten wir auch schon vorher. Deshalb seid ihr ja ausgerückt.«

DomDaniel hob den Blick gen Himmel. Was stimmte nur mit diesem Kohlkopf von Lehrling nicht? Müsste der siebte Sohn eines siebten Sohns mittlerweile nicht wenigstens ein paar magische Kräfte besitzen? Müsste er mit einem Haufen drittklassiger Zauberer, die sich am Ende der Welt verkrochen, nicht spielend leicht fertig werden? Wut überkam ihn.

»Warum?«, schrie er. »Warum bin ich nur von Idioten umgeben?« Er schäumte. Sein Blick fiel auf Marcia, in deren Gesicht sich Verachtung mit Erleichterung über das soeben Gehörte vermischte.

»Bringt die Gefangene weg«, brüllte er. »Sperrt sie ein und werft den Schlüssel weg. Die ist erledigt.«

»Noch nicht«, entgegnete Marcia ruhig und drehte DomDaniel absichtlich den Rücken zu.

In diesem Moment trat zu Jennas Schrecken Junge 412 hinter dem Fass hervor und schlich zu Marcia. Vorsichtig schlüpfte er zwischen dem Magog und den Matrosen durch, die Marcia zur Luke stießen. Aus der Verachtung in Marcias Augen wurde Erstaunen, dann gespielte Gleichgültigkeit, und da wusste Junge 412, dass sie ihn bemerkt hatte. Flugs zog er den Drachenring vom Finger und drückte ihn ihr in die Hand. Ihre grünen Augen fingen seinen Blick auf, und unbemerkt von den Wächtern steckte sie den Ring ein. Junge 412 verweilte nicht länger als nötig. Er wirbelte herum und rannte zu Jenna zurück, streifte in der Eile aber einen Matrosen.

»Halt!«, rief der Mann. »Wer da?«

Alle an Deck erstarrten. Nur Junge 412 nicht. Im Laufen ergriff er Jennas Hand. Höchste Zeit zu gehen.

»Eindringlinge!«, schrie DomDaniel. »Ich sehe ihre Schatten! Ergreift sie!«

Erschrocken blickten die Matrosen sich um. Sie konnten niemanden sehen. Hatte ihr Kapitän jetzt vollends den Verstand verloren? Überrascht hätte sie das jedenfalls nicht.

Im allgemeinen Durcheinander erreichten Jenna und Junge 412 unbehelligt die Strickleiter und kletterten schneller an ihr hinunter, als sie es jemals für möglich gehalten hätten. Nicko sah sie kommen. Es wurde auch höchste Zeit – der Unsichtbarkeitszauber verlor seine Wirkung.

Über ihnen auf dem Schiff war alles in heller Aufregung. Fackeln wurden entzündet und alle infrage kommenden Verstecke durchsucht. Jemand kappte die Strickleiter, und während die Muriel zwei und das Kanu des Jägers hinaus in den Nebel glitten, klatschte die Leiter ins dunkle Wasser der auflaufenden Flut.

Septimus Heap 01 - Magyk
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